Fragen an Cyril Kennel, Experte für Postmoderne. Von Severin Müller
Ich bin Design- und Architekturhistoriker und unterrichte an diversen Schulen Kulturgeschichte und Designtheorie. Im Rahmen meiner Forschung hat es mir die postmoderne Architektur angetan, für deren Vermittlung und Anerkennung ich mich einsetze. Gerade in ihrer Form von Alltagsarchitektur in der Peripherie, wo sie oft Wurzeln geschlagen hat, unbeachtet von Diskussionen über Stararchitektur, ist sie kaum auf dem Radar der Geschichtsschreibung.
Es gab unterschiedliche Urknalle, die mich zu diesem Thema führten. Vor etwas mehr als zehn Jahren war ich in London, und Grace Jones schaute mich von einem Poster in der Tube an, um eine grosse Ausstellung über den Postmodernismus im V&A zu bewerben. Davor hatte ich keinen wirklichen Zugang zu dieser Zeit. Es war eine Ästhetik, die mich befremdete. Den Gedanken, darüber eine Ausstellung zu machen, fand ich aber reizvoll. Ich schaute die Ausstellung an und fand sie faszinierend, jedoch im Sinn einer Ambivalenz. Ich fühlte mich gleichermassen angezogen wie abgestossen.
Ein zweiter Urknall war einer meiner Lieblingsfilme von Brian De Palma aus dem Jahr 1984, Body Double. In einer zentralen Szene kommt es zu einer Verfolgung durch ein Shoppingcenter, in welcher der Verfolger wie in einem Vexierspiel wiederum verfolgt wird. Brian De Palma hat das fantastisch inszeniert, in einer Architektur der 1980er Jahre in Los Angeles. Wir haben eine postmoderne Architektur als Inszenierung und gleichzeitig macht De Palma eine postmoderne Referenz an Alfred Hitchcock. Die Szene ist vielschichtig, ziemlich camp und hat mich immer fasziniert.
Auch selbst wohne ich in einem postmodernen Gebäude, was mir lange gar nicht klar war. Das Haus hat Giebel, türkisfarbene Schindeln, maritime Elemente und ein nach Versailles schielendes Treppenhaus. Das waren meine drei Einstiege in die Postmoderne.
Genau. Erst später, als ich mit einem Bein schon tiefer in der Postmoderne stand, realisierte ich, dass gewisse Aspekte bereits als Kind einen Einfluss auf mich hatten. Mein Jahrgang ist 1982, ich habe diese Epoche als Kind wahrgenommen. Da gab es zwei Bauten, die mich geprägt haben.
Das eine war ein Bankgebäude in der Region, in der ich aufwuchs: die Kantonalbank in Baar, die damals ganz neu war. Meine Mutter nahm mich dorthin mit. Was mich als Kind daran faszinierte: das Kopfsteinpflaster aus dem Aussenraum zieht sich bis in den Innenraum hinein. Es mündet in einen Brunnen in der Eingangshalle, die beeindruckend und pompös sein will. Nun hat die Postmoderne die Vermischung von Aussenraum und Innenraum nicht erfunden. Aber später realisierte ich, dass das eine Codierung des ländlichen Raumes ist, der sich in das Innere des Gebäudes hineinzieht. Es ist die Inszenierung eines Dorfplatzes. Als Kind fand ich das anziehend, und später fand ich die Sprache, um das zu beschreiben.
Das zweite Bild war eine Überbauung in meiner Heimat Zug, die wohl grösste postmoderne Überbauung der Deutschschweiz: dem Einkaufszentrum Metalli. Dort gab es Rolltreppen ins Untergeschoss und zwischen ihnen eine illusionistische Attrappe einer Treppe, vermutlich Plexiglas, die von innen beleuchtet war und so programmiert, dass die beleuchteten Stufen hin und her wanderten, ein bisschen wie in einer Fernsehshow. Durch meine Forschung fand ich heraus, dass das Konzept von einem der berühmtesten europäischen Lichtdesigner der damaligen Zeit stammte.
In Bezug auf die Postmoderne waren es diese zwei Bauten. Mein Interesse an der Architektur intensivierte sich erst später, beispielsweise auf Reisen nach Südafrika. Dort begann ich mich für den Afrikaansen Brutalismus zu interessieren. Ich las ihn als eine Art der Machtdemonstration im Apartheitsstaat und so kamen soziale Interessen zur Architektur dazu. Fragen nach Repräsentation und Machtgefällen.
Ja. Natürlich gibt es Bilder, die positiver besetzt sind als andere. Ich hatte eine klassische Phase, in der ich mich für die Moderne und Nachkriegsmoderne mit ihrer Nüchternheit und teilweise auch Transparenz, einem formalen Reduktionismus, interessierte. Wirklich emotional berührt haben mich aber immer andere Arten von Architektur.
Ich bin kein klassischer Akademiker. Ich trage zwei Herzen in meiner Brust: Design und Architektur. Ich bewege mich dazwischen und interessiere mich dafür, weil es Alltagsphänomene sind. Es gibt einen offiziellen Kanon, was Design und Architektur sein soll und die tatsächliche Erfahrung im Alltag. Dazwischen kommt es oft zu Diskrepanzen und da wird es spannend. Weiter ist die Frage, wer die Geschichte dazu schreibt. Als ich mich zu einem Studium entschliessen sollte, gab es die Optionen Film, Medienwissenschaften, Design oder Architektur. Es wurde dann Design, wahrscheinlich aus Zufall. Aber die Interessen vereinen sich in mir bis heute. Meine Biografie ist vielleicht auch postmodern, eine Bricolage.
Dazu müssen wir eine Schlaufe machen. Es gibt eine ästhetische Postmoderne. Wir denken an dekorative Giebel, schrille Farben, eine fast schon billige Ästhetik. Es gibt aber auch den Blick auf die Postmoderne als Epoche. Es ist nicht einfach, sie zeitlich zu fassen. Auf Englisch gibt es den Begriff der Postmodernity, wozu es keine passende deutsche Übersetzung gibt. Es ist wohl eine kulturelle Kondition, die seit den späten 1960er Jahren einerseits Elemente aus der Moderne in einen Skeptizismus verabschiedet und andererseits gewisse Elemente weiterführt. Nicht zuletzt auf philosophischer Ebene. Diese hat bis heute nachhaltige Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und das Bildungssystem. Die Postmodernity hinterliess ihre Spuren und ist mehr als nur eine Mode. Sie hat sich über mehrere Jahrzehnte normalisiert und kulturelle Strategien in der Populärkultur definiert, die heute als Alltag wahrgenommen werden – beispielsweise im Film.
Dann gibt es eine engere, visuelle oder ästhetische Ebene, die man durchaus als Mode beschreiben kann – eben die Giebel und Türmchen, Schaufassaden oder Bezüge zum Pop. Was mich an der Postmoderne reizt, ist ihre symptomatische Widersprüchlichkeit. Sie hat ein Janusgesicht und hat sich in den späten 1960ern als Gegenkultur formiert. Im Design positionierte sie sich klar politisch links, teilweise gar marxistisch und antikapitalistisch. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Postmoderne aber zum Gegenteil ihrer ursprünglichen Ansprüche. Sie etablierte sich und wurde zu einem reinen Verzieren von Oberflächen. Diese Wellenbewegung lief parallel zum Siegeszug des Neoliberalismus auf ideologischer Ebene. Aus einer reflektierten Avantgarde wird etwas Ästhetisierendes, eine Hülle, die man ursprünglich kritisierte. Diese Widersprüche kann man der Architektur gut ablesen, aber auch dem Design, wenn man beispielsweise an Alessi denkt.
Es gibt zwei Formulierungen, die ich mir aber angelesen habe. Die eine lautet, dass die Postmoderne der selbstreflexive Stachel der Moderne sei, also etwas, das der Moderne inhärent ist. Nicht im Sinn einer Abkehr, sondern dass der Moderne ihr eigener Skeptizismus eingeschrieben ist. Die andere lautet, dass die Postmoderne die Betriebsstörung der Moderne sei. Es kommt also zu Funken und Rauch, der Betrieb wird gestört, aber er geht weiter – auf eine andere Art und Weise. So wäre sie eine Erweiterung der Moderne. Die Abkehr von der Moderne fand hauptsächlich im ästhetischen Sinn statt. Man wandte sich gegen einen ästhetischen Funktionalismus. In der Architektur nannte man das den Bauwirtschaftsfunktionalismus.
Interessante Frage. Ob es innere Konflikte sind, die sich abbilden, kann ich nicht beurteilen. Aber die Postmoderne ist sicher eine Verkörperung der Diskurse um high and low culture der Sechziger, die sich in materielle Kultur übersetzten. Komplexität und Widerspruch, wie von Robert Venturi beschrieben. Diese Widersprüchlichkeit kann überfordern. Es gibt aber auch eine plumpe Postmoderne, die unterfordert. Die Kombination von high and low culture, eine kulissenhafte Fassade, hat auch den Anspruch von etwas Billigem, nicht Authentischem, was bis heute irritieren kann.
Bei jüngeren Architektinnen und Architekten erkenne ich ein wiedererwachtes Interesse an der Postmoderne. Ich würde aber noch nicht von einem Revival sprechen. Es sind bestimmte Aspekte, die aktualisiert werden und in unsere Gegenwart einfliessen. Ich erkenne Motive und ästhetische Strategien, die in diese Zeit zurückgehen. Es ist nicht einfach ein Aufgreifen, sondern viel ausgewählter. Beispielsweise spielt Semiotik wieder eine wichtigere Rolle in der Architektur. Auch auf der wissenschaftlichen Seite wächst das Interesse. Dabei kann man täglich zuschauen und es ist schön, eine neue Generation am Werk zu sehen. Die klassische Wartezeit von 30 Jahren, um neutral auf eine Epoche zu schauen und sie zu einem Comeback zu bringen, ist langsam durch.
Diese Begriffe sagen mir nicht viel, ich arbeite nicht damit. Mich interessieren Alltagsphänomene und Alltagsarchitektur. Es gibt Phänomene, die sich einige Jahre später in die Peripherie übersetzen, was sie dann unfashionable macht. Ich möchte die Architekturen aber wertfrei betrachten. Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, sehe ich keine grosse Stararchitektur, sondern Infrastruktur, Industrie, Gebrauchsarchitektur. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner sind von dieser Art Architektur umgeben, was einen Einfluss auf ihren Alltag hat, und wie sie ihr Leben wahrnehmen und gestalten. Ich gehe auch gerne auf anonyme Architektur zu. Solche von grossen Baufirmen beispielsweise, die durch ihren hohen Output relevant wurden und das Gesicht der Schweiz massgeblich beeinflusst haben.
Jede Zeit hat ihre eigene Auffassung von Fake. Jede Zeit produziert ihr eigenes Fake und somit ist jedes Fake auch zeitgenössisch. Da sehe ich keine Diskrepanz. Auch das, was als nicht authentisch wahrgenommen wird, basiert auf seiner Zeit und hat seine Gründe, warum es sich so artikuliert. Dadurch wird es zeitgenössisch. Im Übergang zur zeitgenössischen Architektur hat die Postmoderne auf kultureller Ebene vieles normalisiert, was heute als selbstverständlich gilt. Im Städtebau beispielsweise: das Eingehen auf den Kontext, das Betrachten des Stadtkörpers als Morphologie.
So kommen wir auf eine weitere Definition der Postmoderne: die Postmoderne als Methode. Eine Haltung, die man im Prozess einnimmt, und diese Definition hat sich bis heute gehalten. Auf einer ästhetischen Ebene hat man sich in den Neunzigern von der barocken Üppigkeit der 1980er Jahre verabschiedet und suchte wieder Inspiration in der klassischen Moderne mit viel Glas und Transparenz, was heute interessanterweise auch wieder mehr verschwindet.
Das Interessante an den Neunzigern finde ich, dass die Reduktion und Transparenz eben auch eine Inszenierung waren. Sie stellen nur das Bild von Transparenz dar, sind auch als neoliberale Codierung zu betrachten und somit im weitesten Sinn einfach Marketing. Spannend ist weiter, dass die noch junge Architekturpsychologie unter anderem untersucht, warum Menschen gar nicht so viel Transparenz haben möchten. Die Erdgeschosse mit grossen Fenstern, wo man dann nicht will, dass Andere in die Stube schauen können. Die Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner zählte also nicht unbedingt.
In der Rolle des Lehrenden kommt es oft zu Verwirrungen in den Begriffen. Vielleicht sollten wir nicht mehr von modern sprechen, wenn wir eigentlich zeitgenössisch meinen. Denn „modern“ hängt immer auch mit „modernistisch“ zusammen, was missverständlich sein kann, weil dann eine historische Komponente mitschwingt. Interessant ist ja, dass die Moderne mit grossem M auch heute noch bei vielen abstossend wirkt. Sie wird als unterkühlt und abweisend, als ungemütlich aufgefasst. Es gibt viele Institutionen wie den Heimatschutz, die sich alle Mühe geben, die Moderne trotzdem als architektonisch wertvoll zu vermitteln. Ich merke aber, dass eine gewisse Résistance bleibt. Vielleicht bleibt sie zu abstrakt. Mein Bauchgefühl ist, dass die Vermittlung von Postmoderne wiederum eher in Fachkreisen Widerstände auslösen wird, weil die Postmoderne mit Populismen agiert und die Bildung von Kanon hinterfragt. In der breiten Bevölkerung wird es weniger ein Problem sein. Die Postmoderne kann als gemütlich und lustig gelesen werden.
Bei zeitgenössischen Phänomenen komme ich an meine Grenzen. Aber ich denke mir, in 30 Jahren kommt wer und schreibt seine Doktorarbeit darüber. Ich ertappe also meinen eigenen blinden Fleck, versuche ihn aber zu bearbeiten. Diese Kälte ist ein Gefühl, das auch mir begegnet. Wenn ich ein Befremden verspüre, versuche ich, möglichst nicht elitär zu denken. Denn an all diesen Architekturen hängen Geschichten und Familien. Mittelständische Aufträge an Handwerkerinnen und Handwerker, Existenzen. Die Mehrheit lebt in diesen Architekturen und alle haben das Recht, sich so zu artikulieren, wie sie möchten. So zu wohnen, wie sie möchten. Über die Alltagsarchitektur wird oft die Nase gerümpft. Ich sehe die Verlockung dazu, möchte sie aber wertfrei betrachten.
Gerade bei der Postmoderne ist es interessant, dass es im akademischen Umfeld das Interesse am Vernakulären gab und gibt. Geht es dann aber um das tatsächlich Populistische, wird die Nase gerümpft. Vernakuläres durch die akademische Linse: that’s fine. Tatsächlich Vernakuläres, irgendwo hinter Schlieren: bitte nicht. Das finde ich spannend. Auch ein Widerspruch. Wer bestimmt, welche Auffassung von vernakulär gilt?
Wichtig ist der menschliche Massstab, ein Bezug zum menschlichen Körper und zur menschlichen Emotion. Das macht gute Architektur aus. Losgelöst von Stilen, die sich wandeln.
Ich habe Vorstellungen, romantische Projektionen, wie ich wohnen möchte. Das ist persönlich und den Ort kann ich deshalb nicht nennen. Bestimmt in Nordeuropa, nahe an der Nordsee. Typus: beheizter Steinhaufen. Also archaisch angehaucht und ganz simpel. Ich brauche nicht viel Fläche und habe gerne meine Freiheiten, wenig Ballast. Wenn ich durch das Fenster Schafe im starken Wind sehe, ist das meine Idee von Romantik. Ich brauche kein gutes Wetter und bin resistent.
Meine Forschungstätigkeit bewegt sich methodisch zwischen Induktion und Deduktion, dem Ablesen von Phänomenen und dem Zusammenbringen mit vorgefertigten Begriffen und Meinungen. Wenn ich inhaltlich arbeite, melde ich mich ab und arbeite ganz analog und abgekapselt. Ich gehe in den Maulwurfsmodus. Ich liebe es, Archive zu besuchen. Da könnte ich Monate verbringen. Ich gehe auch gerne raus und versuche, zu vermitteln. Gerade an Menschen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen: Brücken bauen. Auch wenn wir jetzt eher akademisch gesprochen haben, das Anpassen der Sprache – je nach sozialem Kontext – sowie das Zeigen von Interesse an diesen unterschiedlichen Hintergründen und Geschichten, das finde ich wichtig.
Durchaus. Ich bin in unterschiedlichen sozialen Umfeldern unterwegs und das ist mir wichtig. Gerade in einer Zeit, in der gesellschaftliche Milieus immer weniger aufeinander zugehen.
In der Vermittlung von Design und Kulturgeschichte gibt es oft eine Verzerrung. Man sagt, die Vermittlung der Kulturgeschichte, beispielsweise an Designschulen, geht über das Bauhaus. Dann kommen die Nachkriegsjahre, eventuell die Erschütterungen der 1960er und dann ist Schluss. Nun sind die Sechziger aber auch schon ewig her und es gibt einen blinden Fleck über die letzten 50 Jahre. Bei den Studentinnen und Studenten sehe ich aber ein grosses Interesse an der jüngeren Vergangenheit. In diese Lücke möchte ich gehen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts soll gestärkt werden, genau wie Alltagsbeobachtungen. Die aktuelle Generation motiviert mich in meiner Arbeit. Es macht mir Freude, wenn ich sie auf Fährten locken kann.
Die Filmgeschichte ist für die Geschichte von Design und Architektur essenziell. Michelangelo Antonioni liefert mit seinen Filmen, seiner Art und Weise, wie er Räume und Gebäude inszeniert, eine Kritik an der Moderne. Zeitgleich beginnt der architekturhistorische Diskurs um eine kritische Auseinandersetzung mit der Moderne. Ich denke daran, wie verloren Jeanne Moreau durch die Vorstädte von Mailand geht. Ähnliche Elemente finden sich später in den Texten von Lucius Burckhardt, wenn er über Brachflächen schreibt. Dazu ist der Film ein starkes Medium. Oder auch dann, wenn die postmoderne Architektur als Kulisse einer postmodernen Erzählform verwendet wird, wie wir anfangs besprochen haben. Diese Mehrschichtigkeit macht das Medium Film aus – und einzigartig.