Das Poeticwalls Sommerinterview zu Minsuk Cho's temporärem Pavillon für die Serpentine
© Mass Studies. Photo: Iwan Baan. Courtesy: Serpentine
Minsuk Cho wurde 1966 in Seoul geboren. Er verbrachte seine Kindheit inmitten von Baustellen, die die Topographie der südkoreanischen Hauptstadt in einer Zeit von Wachstum und Veränderung prägten. Sein 95-jähriger Vater, ebenfalls Architekt, lehrte ihn, dass Architektur nicht ein Beruf, sondern eine Lebenseinstellung ist. Chos Bauten sind als soziale Maschinen konzipiert, die sich mit Kollektivität, mit unseren Sinnen und mit Zeitlichkeiten auseinandersetzen. In diesem Gespräch spricht Cho über seine Reise von New York über Rotterdam nach Südkorea, wohin er 2003 zurückkehrte und sein Büro Mass Studies eröffnete.
Minsuk Cho’s neueste Arbeiten sind die französische Botschaft in Korea und der Won-Buddhismus-Wonnam-Tempel – beide in Seoul – ein radikales Wohnbauprojekt für 100 Einheiten auf einer Hochwasserschutzanlage in der Nähe des Han-Flusses und der 23. Serpentine Pavillion. Letzterer heisst Archipelagic Void und wurde kürzlich in den Kensington Gardens eröffnet, wo er ein fünfmonatiges Programm mit Veranstaltungen und künstlerischen Interventionen beherbergen wird.
Traumprojekte, die er in naher Zukunft zu realisieren hofft, sind: Eine gemeinsame Architekturausstellung von Nord- und Südkorea, konzipiert als Ort für die Heilung historischer Traumas und als Modell für eine friedliche Koexistenz. Sowie eine Saatgutbank und Wissensbibliothek in einem grossflächigen Gebiet, das 1953 zur Trennung der beiden Länder eingerichtet wurde und heute ein Naturreservat ist.
Minsuk Cho: In Seoul war die Architektur Teil der Ingenieurschule. Es war eine strenge, technische Ausbildung, die auf den Prinzipien der japanischen Kolonisation des frühen 20. Jahrhunderts basierte und von deutschen und britischen Systemen beeinflusst war: mit viel Mathematik und Physik. Aber dieser technokratische Ansatz war auch produktiv, weil die Architektur verschiedene Disziplinen – Wissenschaft, freie Künste, Natur und Kultur – miteinander verknüpfte.
Der Umzug nach Columbia war eine aufregende Veränderung. Ich studierte dort von 1989 bis 1992, in den ersten Jahren als Bernard Tschumi Dekan der GSAPP, Graduate School of Architecture, Planning and Preservation der Columbia University, war. Es war kurz nach der Deconstructivist Ausstellung im Museum of Modern Art in New York. Rem Koolhaas und Frank Gehry gehörten zu den sieben vorgestellten Nachwuchsarchitekten, zusammen mit Tschumi. Was ich sehr inspirierend fand, war die Art und Weise, wie er die Schule leitete: Er kultivierte ein vielfältiges Ökosystem architektonischen Denkens und brachte Menschen aus verschiedenen Kulturen und Perspektiven zusammen. Für jemanden aus dem Asiatischen Raum war dieser Kontakt mit unterschiedlichen Ansichten, Ansätzen und Arten, Architektur zu machen, unglaublich.
Nach dem Studium arbeitete ich mit James Stewart Polshek bei Polshek and Partners in New York. Polshek war vor Bernard Tschumi Dekan an der Columbia GSAPP. Er war es auch, der mir Kenneth Frampton vorstellte – ein für mich wichtiger Mentor und Einfluss.
MCH: Ich war von 1996 bis 1998 bei OMA. Zu Beginn waren wir etwa 30 Mitarbeiter und 100, als ich ging. Ähnlich wie Tschumi an der Columbia University beschäftigte sich Rem Koolhaas mit verschiedenen Bereichen und Gebieten und schuf ein dynamisches Ökosystem, das uns einen Überblick über die Welt verschaffte. Meine zweieinhalb Jahre dort fühlten sich wie fünf oder sieben an. Als erstes arbeitete ich an dem Masterplan für die Universal Studios in Los Angeles. Wir waren oft vor Ort und hatten freien Zugang zu allen Einrichtungen des Themenparks, zu Kinos, Einkaufszentren und Hotels. Das war ein spannendes Projekt.
Später arbeitete ich an zwei Museumsprojekten in Korea: das Seoul National University Museum of Art und das Leeum Samsung Museum of Art. Beide Projekte befanden sich in Seoul, in unterschiedlichen Kontexten. Der Prozess, an beiden gleichzeitig zu arbeiten, war sehr effektiv. Eines meiner letzten Projekte bei OMA war ein Wettbewerb für den Masterplan der Icheon Song-Do New Town, ein ehrgeiziges Projekt für ein neues IT- und Logistikzentrum in Nordostasien, das auf der Rückgewinnung eines grossen Stücks Land basierte - zu dieser Zeit das wahrscheinlich grösste OMA Projekt. Aber bevor der Wettbewerb abgeschlossen war, hatte ich bereits beschlossen, zurück nach New York zu ziehen und mein eigenes Büro zu eröffnen.
MCH: Die Architekturbiennale 2014 war das erste Mal, dass Korea eine Ausschreibung machte für die Rolle des Kommissärs und des Ko-Kurators – ich wurde eingeladen teilzunehmen und erhielt den Zuschlag. Rem Koolhaas forderte alle nationalen Pavillons auf, sich länderspezifisch mit 100 Jahren Modernität, von 1914 bis 2014, zu beschäftigen. Angesichts der Geschichte Koreas hielt ich es für unerlässlich, sowohl Nord- als auch Südkorea einzubeziehen, obwohl ich den Norden nur begrenzt kenne.1914 war Korea eine Nation unter japanischer Kolonialherrschaft. Wir wollten die andere Hälfte der Geschichte nicht aussparen und eine Narration für die gesamte Halbinsel schaffen.
Ursprünglich wollte ich eine direkte Zusammenarbeit mit nordkoreanischen Architekten initiieren, indem ich über diplomatische Kanäle Briefe verschickte. Das Ziel war es, gemeinsam eine historische Ausstellung zu organisieren.
Aufgrund von Zeitmangel und der strukturellen Komplexität einer solchen Aktion enstand daraus ein Netzwerk von Architekten, Künstlern, Denkern, Dichtern und Filmemachern, die sich für beide Koreas interessieren. Dieser Ansatz brachte Menschen zusammen, die voneinander wussten, sich aber nie getroffen hatten, und schuf ein echtes Gefühl der Kameradschaft und Gemeinschaft. Das Netzwerk verfolgte die Zusammenarbeit an anderen Orten weiter: in Helsinki etwa, und in New York. Es gab auch viele grossartige Zufälle. Zum Beispiel machte mich der italienische Botschafter mit der Arbeit des Mailänder Fotografen Alessandro Belgiojoso bekannt, der sowohl in Nord- als auch in Südkorea ausgestellt hatte. Er war es dann auch, der den Besuch des nordkoreanischen Botschafters im Pavillon in Venedig ermöglichte. Dieser war beeindruckt von der Ausstellung, von der ausgewogenen und respektvollen Darstellung der nordkoreanischen Architektur und den urbanen Strategien. Architektur ist ein wichtiges Instrument. Sie ist ein Fenster, durch das wir uns gegenseitig betrachten können.
MCH: Ich begann mit dem koreanischen Künstler Jae-Eun Choi an einem Projekt zu arbeiten. Standort: Eine 300 Kilometer lange und 4 Kilometer breite entmilitarisierte Pufferzone, die nach dem Koreakrieg 1953 geschaffen wurde. Das Gebiet, das 70 Jahre lang von Menschen unberührt blieb, ist das Ergebnis tragischer Umstände und hat sich zu einem blühenden Ökosystem und einer Verbindung zwischen den beiden Koreas entwickelt: zwischen zwei von Menschen und Natur bewohnten Realitäten. Gemeinsam mit einer Gruppe von Architekten, Künstlern und Wissenschaftlern haben wir überlegt, wie wir diesen einzigartigen natürlichen Lebensraum, ein zufälliges Nebenprodukt der Geopolitik, erhalten können. Mein Vorschlag: Die Umwandlung eines in den 1970er Jahren entdeckten militärischen Tunnel in eine Samenbank. Wir haben diesen unterirdischen linearen Hohlraum in einen Raum, einen Tresor, verwandelt, um das Leben (die Natur) und das Wissen (die Daten) der DMZ-Ökologie (demilitarisierte Zone) zu bewahren.
MCH: Leerräume sind wichtige Werkzeuge in der Architektur. Nicht nur als leere Räume - ich fühle mich von ihrer Unbeschriebenheit angezogen.
MCH: In der Tat rannte ich als 5-jähriges Kind auf Baustellen herum, ohne Sicherheitskontrollen, kletterte auf Schotterberge und erkundete die chaotische Umgebung. Ich liebte diese "im Entstehen begriffene", künstliche Topografie von Seoul. Sie hat meine Wahrnehmung von Architektur und städtischen Räumen stark beeinflusst.
MCH: Das ist eine grossartige Beobachtung. In den frühen 1970er Jahren war Südkorea ärmer als Nordkorea, und als Kind habe ich das gesamte Spektrum des Wirtschaftswachstums und dessen rasante Beschleunigung in den 1980er und 90er Jahren miterlebt. Als ich 2003 nach Korea zurückkehrte, fühlte es sich wie eine Fortsetzung der Tabula-Rasa-Situation von früher an. Alles wurde schnell und planlos gebaut und ebenso schnell wieder abgerissen, und überall wurden neue Hochhäuser errichtet. Diese Zeit war einzigartig. Anders als im Europa der Nachkriegszeit oder in Amerika herrschte in Korea an einigen Orten eine explosive Urbanisierungsenergie, während andere Gebiete schrumpften und wieder aufgebaut wurden. Es war eine Dynamik von Gegensätzen, die sich gleichzeitig entfaltete. Deshalb variiert die koreanische Architektur so stark – einige Stadtteile wurden neu gebaut, fast wie Singapur, mit wunderschön geplanten neuen Ikonen. Allerdings bin ich zunehmend skeptisch, ob wir eine so schnelle Entwicklung brauchen. Die Einstellung hat sich definitiv geändert. Neben der anhaltenden Entwicklungsenergie wird mehr Wert darauf gelegt, Materialien sinnvoll zu verwenden und die langfristigen Auswirkungen unserer Bauten zu berücksichtigen. In meiner Kindheit lebte ich in moderner, brutalistischer Architektur. Man musste sich schnell anpassen: von kleinen Dörfern zu dieser Art von "Unité d'Habitation" – moderne Städte mit Megaform-Gebäuden. Obwohl wir in nagelneuen, schmucklosen Betonbauten lebten, hatten wir ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Das sind starke Erinnerungen an meine Kindheit.
Obwohl Korea heute sehr modern und dicht, ökologisch und nachhaltig baut und sich mit verschiedenen Standorten in der Stadt und ausserhalb der Stadt, also in ländlichen Gebieten, befasst, stehen wir vor diversen Herausforderungen und Chancen. Das gebirgige Gelände Koreas etwa erfordert Projekte mit hoher Dichte in den wenigen verfügbaren Tälern. Unabhängig vom Massstab – ob Hochhäuser oder kleine landwirtschaftliche Pavillons - ist die Architektur ein wichtiges Instrument für die Gesellschaft.
MCH: Die Herausforderung besteht darin, dichte Umgebungen zu schaffen, die einladend sind und die Vielfalt ihrer Communities widerspiegeln, anstatt eine Uniformität aufzudrängen, die die Menschen entfremdet.
MCH: In gewisser Weise ist es tatsächlich ein kleines Projekt, aber für mich ein sehr wichtiges. Wir brauchten einen Monat , um den Vorschlag auszuarbeiten.
MCH: Hans Ulrich Obrist gab mir ein kleines Buch mit dem Titel The Archipelago Conversations, eine Sammlung von Gesprächen mit Édouard Glissant. Aber ich konnte es nicht sofort lesen, weil ich damit beschäftigt war, Designvorschläge zu machen. Unsere Idee für den Pavillon bestand im Wesentlichen darin, das Zentrum als Leerstelle zu belassen und die Peripherie als Ort der Vielfältigkeit zu betrachten, an dem sich alles abspielt. Dann, zwei Tage vor der Einreichung, begann ich dieses Buch zu lesen, und ich dachte: Wow, das ist es, was wir tatsächlich gemacht haben! Also änderte ich den Titel zu Archipelagic Void, als Dankeschön an Hans Ulrich.
MCH: Archipel bedeutet, dass es mehr als eine Insel gibt, und dass es einen Zwischenraum gibt. Je nachdem, von wo aus man sich nähert, entdeckt man unterschiedliche Elemente, die durch diesen Zwischenraum miteinander verbunden sind. Egal woher man kommt, treffen sich die Menschen in der zentralen Lücke, die wie ein städtischer Kreisverkehr funktioniert – nur dass er nicht für Autos, sondern für Fussgänger konzipiert wurde. Wir wollten eine Version von Madang, dem Innenhof traditioneller koreanischer Häuser, einführen. Das sind leere Räume, die voller ungreifbarer Geschichten und Möglichkeiten sind.
Im Zentrum der Diskussion um die Architektur des 20. Jahrhunderts steht die Idee einer vollendeten Utopie, die durch Bruno Tauts Glaspavillon von 1914 veranschaulicht wird. Diese Bauten wurden oft als Universen, als vollständige Welten, als Raumschiffe mit phantasmagorischen Innenräumen dargestellt. Viele zeitgenössische Pavillons setzen diese Tradition fort. Glissants Perspektive im 21. Jahrhundert bietet eine andere Sichtweise: Er beschrieb es als eine Ära der "unvollständigen Utopie". Unser Pavillon macht sich diesen Gedanken der Offenheit zu eigen, mit 120 möglichen Konfigurationen, die eine Form der dynamischen, aber nicht unendlichen Flexibilität darstellen. Glissant sprach auch von einer "zitternden Utopie", in der die Unvollkommenheit und die Bewegung poetisch anklingen.
Was mich bei diesem Konzept besonders inspiriert hat, ist eine Beschreibung der koreanischen Dichterin Kim Hyesoon, die du in dem im September erscheinenden Katalog findest. Sie schreibt über die Faust, die sich langsam öffnet und fünf Finger zum Vorschein bringt. Diese Metapher fasst das Wesen unseres Pavillons sehr gut zusammen. Die Faust symbolisiert Vollständigkeit, hat aber auch etwas von Zwang oder Spannung. Wenn sie sich öffnet, geht sie in einen Zustand der Möglichkeit und Offenheit über, was die Philosophie unseres Pavillons widerspiegelt: sich Weiterentwickeln und Anpassen, anstatt eine feste, endliche Struktur zu sein.
MCH: Wir haben zehn Wände, die das Gelände radial unterteilen. Aber jede Wand dient auch als Sitzbank. Man kann innerhalb des überdachten Bereichs sitzen oder draussen, manchmal auch beides. Bei einigen Wänden ist das auf beiden Seiten möglich, so dass verschiedene Räume entstehen, die jedoch alle miteinander verbunden sind und zusammenhängen. Das ist ein wichtiger Gedanke. Er zeigt, wie wir die Vielfalt als einen zentralen Wert in unserer Gesellschaft fördern können. Wir reden oft über Vielfalt, aber in Wirklichkeit ist die Welt stark segregiert. Wir haben diese Echokammern im Internet, die in den frühen 2000er Jahren entstanden sind, zur gleichen Zeit wie der erste Serpentine Pavilion. Wir dachten, wir wären miteinander verbunden, aber in gewisser Weise ist es mit den algorithmischen Ghettos noch schlimmer geworden. Wir wollten also die Architektur nutzen, um zu zeigen, dass diese naive Idee vielleicht doch möglich ist, oder sie zumindest bei dieser Gelegenheit demonstrieren. Diese Idee war immer in meinem Hinterkopf.
MCH: Architektur ist ein Werkzeug. Heute geht es zu einem grossen Teil um die dominierende visuelle Kultur. Die Menschen konsumieren mehr denn je visuell. Architektur ist das Einzige, das nicht heruntergeladen werden kann, weil sie mit den fünf Sinnen und der Dimension der Zeit zu tun hat. Die Rolle der Architektur war schon immer die Verbindung von Menschen, die Verbindung von unterschiedlichen Räumen und unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Architektur ist für mich mehr als die Schaffung von Gebäuden; sie muss einen grösseren Zweck erfüllen. Das ist die Ambition der Architektur.
MCH: Unser Pavillon hat einen einzigartigen, nicht verschwenderischen Aufbau: Er wurde aus lokal beschafftem Holz gebaut und kann vollständig zerlegt und in 120 verschiedenen Kombinationen wieder aufgebaut werden. Er passt sich an verschiedene Standorte an und ist gleichzeitig ortsspezifisch. Jeder Flügel erfüllt je nach Standort einen bestimmten Zweck: Ein Flügel befasst sich mit der Serpentine Süd und nimmt sie mit dem grossen Auditorium fast ein. Zwei Flügel, der Spielturm und das Teehaus, sind auf die Ostseite ausgerichtet, wo die meisten Besucher mit dem Auto ankommen. Ein weiterer Flügel, die Galerie, enthält eine Klanginstallation. Auf der Nordseite gibt es wegen eines Zauns keinen Zugang, also haben wir dort die Bibliothek untergebracht.
MCH: Ich habe mich schon immer dafür interessiert, wie wir zusammenleben. Aber wir haben nicht viele Privathäuser gebaut. Es geht mehr um Kollektivität. Viele Häuser, die wir gebaut haben, waren für Leute, die wollten, dass ihr Zuhause mehr ist als nur ein Haus. Zum Beispiel Künstlerateliers, die Arbeits- und Wohnräume miteinander verbinden. Wir haben Projekte für einen befreundeten Neurowissenschaftler mit 20’000 Büchern realisiert, oder ein kleines Museum für eine Design-Direktorin mit einer grossen Kunstsammlung, in dem sie ihre Sammlung zeigen konnte, während sie dort wohnte. Der öffentliche Sektor ist allerdings noch viel interessanter. Ein im Bau befindliches Projekt ist ein junger sozialer Inkubator, in dem Hochschulabsolventen acht bis zehn Jahre lang leben können. Es handelt sich um ein Wohnhaus mit 100 Studios, das auf einer öffentlichen Infrastruktur errichtet wird – einer Hochwasserschutzanlage in der Nähe eines Nebenflusses des Han-Flusses. Diese Einrichtung wird nur für etwa sechs Stunden im Jahr bei Notfällen benötigt, weshalb die Stadt beschloss, sie mit Wohnungen zu kombinieren. Das Gebäude wird über Arbeitsräume, ein Fitnessstudio und andere soziale Angebote verfügen, die auch von den Nachbarn genutzt werden können. Das ist ein einzigartiges Konzept, und wir sind begeistert davon.
MCH: Lina Bo Bardi ist eine Offenbarung für mich. Ich kannte sie nur aus Büchern, bis ich 2016 São Paulo besuchte. Ihre Arbeit war anders als das, was ich bisher verstanden hatte, mit ihrer einzigartigen Vision und Methodik. Sie war nicht die kanonische Architektin der Moderne. Ihre Auseinandersetzung mit der Umgebung, sei es in der Topografie der Casa Vidro, mit dem fantastischen Innenhof und dem auf dem Boden stehenden Haus mit den Pizzaöfen, war wirklich inspirierend. Die Philosophin Gayatri Spivak hatte einen Begriff, den sie "affirmative Sabotage" nannte und der bei mir Anklang fand. Die Architektur in der nördlichen Hemisphäre beruhte auf einem transatlantischen Dialog zwischen Europa und den USA, aber auch alle anderen Gebiete Asiens und Südamerikas haben mich interessiert, und der Ansatz von Bo Bardi war für mich besonders aufschlussreich. Ich hoffe, dass ich Bahia bald besuchen und meine Forschungen fortsetzen kann.
MCH: Ein Zuhause ist ein Ort, an dem man ganz sich selbst sein kann, vielleicht. Vor kurzem haben wir einen buddhistischen Tempel fertiggestellt. Ich dachte, ich hätte einen Tempel entworfen. Aber dann wurde mir klar, dass ich ein Zuhause für 250 Menschen kreiiert habe. Sie gehen nicht nur ihrer spirituellen Praxis nach, sondern erledigen auch Hausarbeiten, kümmern sich um ihren Raum. Das war sehr bewegend zu sehen. Ich denke, ein Haus sollte so sein.
MCH: Ja, man gehört dazu und hat das Gefühl, etwas zu besitzen, und es bildet sich ganz natürlich eine Zivilgesellschaft.
Interview von Fabrizia Vecchione für Poeticwalls